Meine Bondingerfahrung

Ich habe auch mal Therapie gemacht...
Ich finde es sehr wichtig auch einmal auf der anderen Seite zu stehen. Nicht nur um sich in Klienten oder Patienten besser einfühlen zu können, sondern auch, weil ich anderen das "verkaufen" möchte, was ich selbst für sehr wichtig halte: Meine Selbstfindung und Entwicklung würde ich sogar als mein erstes und wichtigstes Lebensziel behaupten. Ich habe unterschiedliche Therapeuten kennengelernt, und ich würde mich nicht nach fachlichen Qualifikationen orientieren, sondern nach Reife, was für mich sehr viel mit Selbsterfahrung und Selbstbewusstsein zu tun hat. Ich würde lieber fragen wie viel Eigentherapien er oder sie gemacht hat...
Ich schäme mich nicht meiner Probleme und Schwierigkeiten und noch viel weniger darüber in bestimmten Situationen etwas anderes ausprobiert zu haben oder mir Hilfe geholt zu haben.

Ich habe eine Kurzzeittherapie gemacht und fand es sehr bereichernd und wichtig in der Zeit. Ich habe mich selbst coachen lassen (und werde es wohl immer mal wieder machen). Und habe vor einigen Wochen ein Bondingworkshop besucht: bei Jeff und Julia Gordon im Zentrum im Kraichgau.

Ich hoffe dieser Bericht hilft anderen sich für ihren eigenen Weg zu entscheiden.

Am Tag davor hatte ich einen Traum: Ich war in meinem Bett und habe mit voller Kraft geschrien, aber es kam kein Ton heraus. Ich habe nichts gehört. Ich hatte keine Stimme und das machte mir Angst. Doch plötzlich merkte ich, wie in allen Stockwerken dieses riesigen Hochhauses die Kleinkinder aufwachten und weinten. Auch ein Hund bellte draußen. Ich freute mich: Ich wurde doch gehört! Ich dachte, dass der Ton vielleicht einfach zu hoch war für meine Ohren. Dann wachte ich auf und war leicht heiser. Ich weiß inzwischen, dass die Stimmbänder auch ohne Ton beansprucht werden, wenn wir uns einfach nur vorstellen, dass wir etwas sagen. Dies nutzen ja auch Sportler, wenn sie sich bestimmte Abläufe einprägen wollen: Der Körper macht mit.

Bonding ist tatsächlich so ähnlich: In einem großen Raum voller Matten liegen 20-30 Erwachsene in Paaren. Diejenigen die unten liegen schreien und oder weinen, meistens. Manche sind auch eher leise. Einige wenige drücken Wünsche oder auch Freude aus. Würde jemand ein kurzes Video davon machen, wäre es recht absurd und seltsam. Aber selbst wenn der erste Eindruck nicht besonders reizvoll ist und in uns eher unangenehme Gefühle auslöst, lohnt es sich genauer hinzusehen (oder zu lesen).

Einstellungsrunde: Zusätzlich gibt es einen kleineren Raum in dem die Teilnehmer zusammen mit einem Therapeuten auf Stühlen im Kreis sitzen. Nacheinander darf hier jeder sein Thema mit dem Therapeuten besprechen und einen Satz finden der zu der eigenen Einstellung bzw. Einstellungsveränderung paßt. Dann darf der Teilnehmer diesen Satz an jeden in der Runde schreien (auch die Leeren Stühle: die sind besonder gut um sich Partner, Vater oder Cheffin vorzustellen). Wenn jemand zurück schreien möchte ist dies nicht nur erlaubt sondern auch erwünscht, da dies den Kontakt fördert und die Angst vor dem Ausdruck der eigenen Wut schmälert. Z.B. könnte jemand, der große Angst hat nicht zu gefallen, "ich scheiße auf eure Erwartungen" als Satz wählen.

Theorie
Ich hatte angefangen es fachlich erklären zu wollen, aber ich denke hierzu kann man vieles lesen:
Deshalb möchte ich erzählen, wie es möglicherweise jemanden geht, der sich für so eine Erfahrung entscheidet.

Am Anfang ist viel Unsicherheit da. Angst sich nicht zu integrieren, abgelehnt zu werden, niemanden zu finden der "harmlos" genug ist. Natürlich auch sexuelle Themen: Wird es mich oder ihn oder sie erregen? Und was wenn ja? (Normalerweise ist die Angst viel zu groß, als dass so etwas passieren würde).
Aber auf einmal befindet man sich inmitten von 20-30 Menschen und die meisten gehen sehr liebevoll miteinander um, scheinen sich zum Teil zu kennen. Vor lauter Angst vor Ablehnung sind fast alle eher vorsichtig. Niemand bedrängt. Manche, besonders die neuen, sind eher schüchtern. Alle sind aufgeregt (auch die alten Hasen).
Nach der Einleitung und gemeinsamen Schreien geht es dann los und ehrlich gesagt bleibt gar nicht mehr viel Zeit sich weitere Gedanken zu machen, weil die Ereignisse viel zu intensiv sind. Es ist aber besonders am Anfang wichtig, dass der Übungspartner uns angenehm ist.

Stellungen
Die normale Position ist folgende: Der aktive Partner legt sich auf den Rücken und der passive Partner legt sich drauf. Ein Bein zwischen die Beine des anderen und leicht schräg, sodass die Köpfe neben einander liegen. Der obere Partner kann sich mit dem Knie oder Ellenbogen abstützen um das Gewicht zu verringern. Der untere Partner sollte den oberen Partner gut umarmen können (um den Brustkorb).

In der ersten Runde hatte ich gelernt, dass es sehr angenehm ist die Übung mit der "Löffelchenstellung" zu beenden. Ich finde es eine schöne Stellung die ich allgemein mit Geborgenheit und Schutz verbinde und fühlte mich einfach sehr wohl mit meiner Partnerin. Danach habe ich in jeder Runde irgendwann gefragt ob wir diese Stellung einnehmen konnten, und durfte so die verarbeiteten Themen in Ruhe beenden und die Gefühle ausklingen lassen.

Eine weitere Möglichkeit ist es, dass der eine Partner zwischen die kaum geöffneten Beine des anderen liegt, mit dem Kopf auf dem Bauch des unteren Partners. Diese Stellung erinnert an ein Baby auf dem Bauch eines Elternteils. Der untere Partner kann dann den Kopf und oberen Rücken des anderen halten oder streicheln (immer alles im Einverständnis beider).

Gefühle und Gedanken
In der ersten Runde kamen mir Verlustängste und das Gefühl im Stich gelassen zu sein. Aber hatte hauptsächlich das Gefühl akzeptiert und geliebt zu werden. Es war mehr "ankommen" und "angenommen werden".
Die zweite Runde war sehr unkritisch. Eher ruhig. Was mir vielleicht auch die Sicherheit gab mich mehr zu öffnen.

In der dritten Runde wurde ich nervös. Die anderen störten mich, ich fand es albern, ich verkrampfte immer mehr und mein Rücken und meine Schulter schmerzten. Irgendwann überkam mich Wut und Hass. In der Einstellungsrunde hatte ich ein klärendes Gespräch mit Jeff: Es ist normal solche Gefühle zu empfinden, wenn man sich bisher eher zurück gehalten hatte und die Einstellung mitbrachte, die Probleme der Anderen wären wichtiger als die eigenen. Er ermunterte mich diese Gefühle im Schutz der Nähe auszudrücken, sagte aber auch ich könnte in den Garten gehen (was ich selbst für mich als Fluchtmöglichkeit in Betracht gezogen hatte). Ich hatte empfand große Scham und konnte mir nicht vorstellen jemand mit diesen Gefühlen zu belasten. Eine sehr entschlossene Frau wollte mich auf der Matte begleiten und nahm mir die Entscheidung ab. Dann wagte ich es mich (bei meiner Mutter in Gedanken) laut zu beklagen. Die Erleichterung und die Ruhe, aber auch die Erschöpfung danach waren sehr groß.

Die vierte Runde empfand ich als Geschenk. Meine Beziehung zu meinem Vater war immer wieder konfliktreich, besonders seitdem ich angefangen hatte meine Weiblichkeit zu entwickeln. Ich denke, dass es eher die Norm ist, dass die sexuellen Tabus unserer Gesellschaft die (nicht sexuelle!) körperliche Nähe von Eltern und Kindern erschwert und viele Probleme und Konflikte mit dem eigenen Körper, Geschlecht oder mit dem anderen Geschlecht dies als Ursache haben.

Ein freundlicher sehr vorsichtiger Mann, ermöglichte es mir die entsagte Nähe zu meinem Vater nachzuempfinden (er erinnerte mich stark an ihn). Ich fühlte mich wie ein Kleinkind im Tragetuch an seiner Brust. Tiefe Ruhe und Geborgenheit erfüllten mich und die Schreie der anderen verstummten fast. Ich war sehr stark auf die sich angeglichene Atmung konzentriert. Fühlte seinen Puls und seine Wärme und die Sicherheit seines Körpers. Sowohl unter ihm wie auch auf ihm und hinter bzw. vor ihm in der Löffelchenstellung.

Die fünfte Matte teilte ich mit einer jungen Frau, die bei mir Konkurrenz, Neid und Eifersucht auslösten, die mich aber gleichzeitig sehr an mich selbst erinnerte und an meine Beziehung zu meiner Mutter. Mit ihr konnte ich "aufhören zu Kämpfen" und "aufhören mich zu beweisen". Nach einer Weile empfand ich viel Freude mit ihr in meinen Armen. Sie zu begleiten war auch sehr schön. Inzwischen konnte ich sehr intensiv meine Partner fühlen und mitfühlen. Die Angst vor meiner Empathie (Mitleiden) hatte sich eher in Neugierde und Anteilnahme verwandelt (Mitfühlen).Jetzt konnte auch ich (so wie mein symbolischer Vater) sagen, dass Empathie etwas Wunderbares ist.

Letzte Matte. Ein junger Mann, der mich daran erinnerte, dass ich meinen Bruder nicht oder selten umarmen darf (er fühlt sich unwohl dabei), löste bei mir sehr viel Schuldgefühle, Angst vor Ablehnung und Schmerz aus. Ich weinte fast ununterbrochen und fühlte mich zum Ende hin erlöst und erleichtert und freute mich auf meine nächste Beziehung (weil diese Angst immer ein wichtiger Störfaktor und Ursache für viel Schmerz in meinen bisherigen Partnerschaften gewesen war).

Gruppendynamik und Gemeinschaft
Es war eine positive Überraschung so eine Mischung an Leuten vorzufinden. Alt und Jung und verschiedene soziale Schichten (soweit es in bequemen Jogginganzügen auszumachen ist) waren vertreten. Auch gab es die "Wiederholungstäter" und die unsicheren Anfänger. Menchen, die aussahen als bräuchten sie eigentlich keine solche Erfahrung oder Therapie und andere, denen im Gesicht geschrieben war, dass sie größere Probleme hatten. Aber Platz war für jeden da.
In der Gruppe durfte ich von Anfang an viel Nähe und Wärme erfahren. Viel Rücksicht und Vorsicht. Mal fühlte ich mich nützlich und gebraucht, mal unterstützt und geliebt. Spätestens nach der ersten Runde umarmen sich fast alle. Jeder fühlte sich erst einmal besser als davor (akzeptiert und geliebt). Die Veränderung der Gesichtszüge und Körperhaltung einiger war richtig verblüffend. Heiterkeit und Gelassenheit würde ich als Grundstimmung angeben.
In drei oder vier Situationen in den Pausen kamen mir erneut die Tränen, weil ich an alten Schmerz in meiner Ursprungsfamilie erinnert wurde. Die Reaktion der auslösenden Personen war sehr positiv und unterstützend. Eine spontane, feste, ruhige und geduldige Umarmung war jedes Mal die Antwort. Sonst hatte ich immer wieder das Gefühl gehabt andere mit meinem Kummer nicht belasten zu dürfen und mich immer wieder in ähnlichen Situationen zurückgewiesen und im Stich gelassen gefühlt.
Aber im großen und ganzen fühlte ich mich sehr wohl und war stolz auf mich. Ich fühlte mich zwar immer schwerer und erschöpfter, aber nur körperlich. Emotional war ich fröhlich und ruhig und fühlte mich stark und zuversichtlich.

Jeff und Julia
lassen der Gruppe viel Freiraum. Sie stehen zur Seite wenn man sie braucht (viele rufen Julia während der Übungen). Sie tun aber nur das Nötige, wobei sie die Eigenverantwortung und Unabhängigkeit der Teilnehmer sehr fördern. Mit etwas Ironie und ohne viel Fachchinesisch werden die wichtigsten Ideen erklärt, so dass jeder sich selbst besser verstehen und diese Art von Therapie besser nutzen kann. Mir dienten sie auch als Vorbild zum Thema Abgrenzung und Partnerschaft. Ich gebe zu, dass ich mir auch ein Lebensprojekt mit einem zukünftigen Partner wünsche, bei welchem wir uns beide gemeinsam verwirklichen können.

Kost und Logis
Das vegetarische Essen war sehr gut und mit viel Kreativität und Liebe zubereitet (sogar mit essbaren Blumen als Dekoration).
Zum Schlafen konnten wir die Matten in den Seminarräumen nutzen oder einige Einzelzimmer (Gasthäuser im Ort gab es auch noch).
Der Garten und der Hof standen auch zur Verfügung, z.B. in den Pausen.
Kleine Tätigkeiten wie Tisch Decken, Abwaschen oder Milch beim Bauern holen, wurden von den Teilnehmern erledigt. Dies fördert auch die Gemeinschaft in der Gruppe und das Gefühl nützlich zu sein.

Als ich am Sonntag die Biotonne ausleeren und auswaschen durfte, musste ich über mich lachen, denn es war mir eingefallen, dass in einem Bericht über Mönche in Asien erklärt wurde, dass diejenigen mit den höheren Rängen die niedrigeren Arbeiten übernahmen um "auf dem Boden" zu bleiben. Tatsächlich hatte ich in dem Moment das gute Gefühl, dass kein Dreck an mir haften konnte...

Nachwort
Ich empfehle diese Erfahrung jedem. Ich denke, es ist und bleibt eine freiwilligen Entscheidung. Aber es lohnt sich. Es ist keine leichte Entscheidung und vielleicht ist es nötig etwas gefestigt zu sein um sich darauf einzulassen. Ich habe über 2 Jahre gebraucht mich an den Gedanken zu gewöhnen, bis ich schließlich die Entscheidung getroffen habe es zu tun. Jetzt überlege ich, ob ich es in einigen Monaten vielleicht wiederhole (wenn ich überhaupt von Wiederholung sprechen kann, da ich sicher bin, dass es ganz anders und trotzdem ganz besonders sein wird).


Nachtrag: Entwicklung

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